Einige Gedanken zu Hierarchien und Graduierungen

In vielen Übungsformen und Traditionen gibt es das Konzept von Hierachien. In mehr oder weniger starker Ausprägung respektieren die Schüler den Meister und tun, was er sagt, auf daß sie irgendwann in die „Geheimnisse“ eingeführt werden.

Oft ist es so, daß, wenn man als Schüler/Student einer Kampfkunstschule eine Unstimmigkeit in der Übung findet und unbefangen seine Meinung darüber äußert…. oder eine Unaufmerksamkeit/Bewegung des Lehrers korrekt nutzt und den Lehrer trifft….. dann wird man entweder verbal abgebügelt oder körperlich unterworfen.

Die Frage/Kritik/korrekte Bewegung wird von vielen Unterrichtenden als Herausforderung verstanden, der agressiv begegnet wird. Wenn der Lehrer so reagiert, ist das eine ungünstige Situation für beide Seiten.

Die oben geschilderte Reaktion tritt häufig auf, wenn das Geschäftsmodell oder Selbstbild auf der Vorstellung von Lehrer/Meister und Schüler oder einer anderen Form einer vertikalen Beziehung basiert.

Bei dieser Einstellung sind die eigenen Fehler oft bedrohlich. Daher kann es dann dazu kommen, daß im Training Situationen vermieden werden, die Fehler aufdecken könnten. So graben viele „Lehrer“ der eigenen Weiterentwicklung allmählich das Wasser ab.

Respekt verhindert, daß Fehler und Schwächen aufgedeckt werden. Man will ja schließlich den Lehrer nicht kompromittieren. Vor allem im asiatischen Raum ist diese Haltung weit verbreitet. Und je höher der Rang, desto größer sind oft die Spannung und die Zwänge.

Häufig reagiert die Respektsperson auf eine Gefährdung des Status mit negativen Konsequenzen für den Gefährder. Dieses Verhalten hat zur Folge, daß sich in der Zukunft jedermann, der glaubt, von dieser Person abhängig zu sein, vorsehen wird, Fehler und Schwächen aufzudecken. Dadurch wird die Situation stabilisiert, das falsche Selbstbild erhalten und die Fehler bleiben weiter bestehen.

Daher leben höhergestellte Menschen oft fern der Wahrheit. Wenn der Bote der Wahrheit in Ungnade fällt, werden die anderen Untergebenen es vermeiden, dem König die Wahrheit zu sagen.

Rangabzeichen und Dein Stil...

Das Ding mit den Rangabzeichen ist ein machtvolles Instrument, um Menschen zu binden. Ich verleihe Dir einen Rang und dafür machst Du was ich sage oder unterstützt meine Glaubensrichtung. So oder ähnlich läuft es in vielen Bereichen, vor allem aber auch in der Kampfkunstszene.

Du investiert viel Geld und Zeit in Deinen „Stil“ oder die Organisation Deines Lehrers mit dem Ergebnis, daß Du nach einigen Jahren dort festhängst und Dich nicht mehr lösen willst, weil Du ja sonst Deinen Status gefährdest, Deine Freunde und Deinen Lehrer verlierst.

Ich verstehe es, wenn Du Dich gerade schlecht fühlst, wenn Du das liest, vielleicht, weil Du soviel darin investiert hast, endlich Dein Rangabzeichen zu bekommen. Ging mir genau so….

Trotzdem hoffe ich, daß ich Dir diese Zusammenhänge bewußt machen kann und Du es schaffst, Dich aus dieser Falle zu befreien.

Die entscheidenden Fragen sind: „Ist es besser, wenn man sich auf die eine Sichtweise eines Stils oder Lehrers beschränkt?? Ist es besser in vertikalen oder horizontalen Beziehungen zu üben? Oder ist es vielleicht besser, verschiedene Stile zu verstehen und so einen erweiterten Horizont zu haben und in echtem lebendigem Kontakt mit seinen Partnern zu sein?“

Du bist von niemandem abhängig, um eine Kunst zu erlernen. Mutter Natur wird Dich alles lehren. Oder…Youtube 😉

Die Lernkurve

Die unten dargestellte Grafik zeigt, wie das Erlernen einer Fähigkeit normalerweise funktioniert. Zuerst befindet man sich links unten auf der Kurve. Die untere, waagerechte  Achse (mit Übung beschriftet) zeigt die Anzahl der Versuche die man macht, um eine Fähigkeit zu lernen. Die senkrechte Achse zeigt den Erfolg an. Bei der oberen waagerechten Achse hat man 100% Erfolg und damit die Perfektion erreicht.

Wenn man beginnt, eine Fähigkeit zu erlernen, braucht es einige Zeit der Übung, bis sich zum erstem Mal Erfolg einstellt. Beim ersten Erfolg befindet man sich dort, wo die Kurve zum ersten Mal die untere Achse verläßt. 

Danach folgt mit weiterer Übung eine Phase, in der die Kurve relativ steil ansteigt, das bedeutet, man hat eine Weile lang sehr schnell immer öfter Erfolg. Danach beginnt die Kurve sich wieder abzuflachen und es wird schwieriger, noch öfter Erfolg zu haben. Schließlich nähert sich die Kurve immer mehr der oberen waagerechten Achse an, kommt also der Perfektion immer näher, erreicht sie aber niemals.

Das die Perfektion nie erreicht wird, liegt daran, daß die Welt so komplex ist und so viele Faktoren eine Rolle spielen. Eine kleine Ablenkung, ein Moment der Unachtsamkeit und das war es… man kann sagen, daß diese Tatsache eine große Gnade der Natur ist, da deshalb auch ein blutiger Anfänger eine Chance hat, jemanden, der sich nahe an der Perfektionskurve befindet, zu besiegen.

Gleichzeitig sieht man, daß es völlig normal ist, Fehler zu machen. Daher braucht man sich deswegen auch nicht aufzuregen. Einfach immer weiter machen so gut es geht und aus den Fehlern lernen.

Wenn man im Training immer Erfolg hat, stimmt was nicht….

Horizontale Beziehungen

Aus der Lernkurve geht hervor, daß wir alle Fehler machen. Niemand ist perfekt und selbst wenn man sich mit bestimmten Fähigkeiten in der Nähe der Perfektionsachse aufhält, so ist der Bereich, in dem das so ist, doch sehr begrenzt.

Aus diesem Grund ist es leicht einzusehen, daß niemand „besser“ als jemand anderes ist.

Wenn im Training eine Atmosphäre vorherrscht, in der man auch den Erfahrerenen ihre Fehler aufzeigen darf, ohne dafür mit negativen Konsequenzen zu rechnen, dann können sich alle weiter entwickeln und das Ganze wird besser.

Nicht der Meister ist Dein Lehrer, sondern die Welt und alles, was sich darin befindet. Ich habe einige meiner größten Entdeckungen gemacht, als ich mit Kindern geübt habe.

Wir lernen auch von solchen, denen wir uns überlegen fühlen und sollten Ihnen genauso viel Respekt und Achtung entgegenbringen wie denen, die sich uns überlegen fühlen.